Wie schon in den sechziger jahren hat die Politik noch immer nicht die zentrale Frage beantwortet, was künftige Schüler und Studenten eigentlich lernen und für welche Berufe sie gewonnen werden sollen.
Von Jutta Roitsch
"Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand. Der bisherige
wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten
Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem
etwas leisten kann." Ein Zitat, mit dem die Konferenz der Kultusminister
eindringlich Krach geschlagen hat, dass es so in Deutschland mit den Schulen,
den Lehrern und Hochschulen nicht mehr weiter- gehen kann? Ein Alarmruf
der Bildungspolitiker, dass der Staat endlich seine Verantwortung für
das öffentliche Bildungswesen wahrnehmen muss? Das Grundgesetz verpflichtet
ihn doch schließlich dazu.
Mitnichten. Die Sätze sind berühmt, aber alt. Mit ihnen leitete
Georg Picht im Februar 1964 seine Zeitungsserie über "die deutsche
Bildungskatastrophe" ein und nahm den späteren Buchtitel des Bestsellers
vorweg. Nüchtern rechnete er den Zustand im Schulwesen vor und präsentierte
der verblüfften Öffentlichkeit die Konsequenz: um dem drastischen
Mangel an Pädagogen, der in fünf Jahren ins Haus stehe, zu begegnen,
müssten sich alle Abiturienten für den Lehrerberuf entscheiden.
Wohlgemerkt: alle, schließlich hinkte die Bundesrepublik damals mit
ihren Bildungsquoten weit hinter den vergleichbaren Industrieländern
in Europa her. Die Republik leistete sich die wenigsten Abiturienten und
viel zu geringe Studentenzahlen, obwohl bereits Anfang der 60er Jahre die
Wirtschaft vom Sprung in die Wissenschaftsgesellschaft sprach. Und 37 Jahre
später? Die Wiedervorlage.
Die Fakten ähneln sich ungemein. Der Generationsbruch in den Schulen
und Hochschulen ist heute so dramatisch wie damals. Die Hälfte der
Lehrer und Professoren geht in diesem Jahrzehnt in Pension. In manchen
Fächern und Fachgebieten fällt die Zahl noch höher aus,
in anderen beginnt der Wechsel früher als errechnet. Die ungeheure
Lustlosigkeit, die in Universitäten wie Schulen um sich greift, hat
dazu geführt, dass das Angebot der Altersteilzeit im öffentlichen
Dienst in viel größerem Ausmaß angenommen worden ist,
als dies die Landesregierungen eingeplant hatten. Wenn die Politiker auch
nur einen Hauch von Ahnung hätten, wie schlecht die Stimmung in nahezu
allen Bildungsinstitutionen ist, dann könnten sie von diesen vorgezogenen
Renteneintritten nicht wirklich überrascht worden sein. Am Problem
selbst ändert sich damit nichts, es wird nur früher deutlich.
Doch es geht heute nicht nur um Generationenbruch und Pädagogenfrust.
Es geht (wie damals) um die zentrale Frage, was künftige Schüler
und Studenten eigentlich lernen und für welche Berufe sie gewonnen
werden sollen. Hier ist die staatliche Ignoranz kaum noch zu überbieten.
Ein Jahrzehnt lang haben die Bildungspolitiker reaktionslos einem beispiellosen
Wandel in Schule und Universität zugesehen. Der Lehrerberuf ist faktisch
zu einem Frauenberuf geworden, und ein breites Fächerspektrum ist,
so hart es klingt, verramscht worden: Mathematik, Physik, Chemie. Dies
sind immerhin die Fächer, die für die modernen Wissenschaften
und die Industrien des 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung waren.
Zumindest für den männlichen Teil der Bevölkerung, der bisher
für Naturwissenschaft und Technik im Gymnasium oder der Berufsschule
gewonnen werden konnte, ist dieser Arbeitsmarkt weitgehend uninteressant
und unattraktiv geworden: zu viel Ärger, zu wenig Geld, zu wenig Moderne.
Auf die radikalen Brüche haben die verantwortlichen Politiker
und Politikerinnen, die Gesellschaft insgesamt, bisher keine Antwort gefunden.
Und des Nachdenkens ist es schon wert, ob Frauen und Männer Kinder
und Jugendliche unterrichten sollen, ob mathematisch-naturwissenschaftliches
Wissen zum Basiswissen gehört, das die Schule allen mitgeben muss:
wie Geschichte, Kultur und Sprache. In beiden Fällen lautet die selbstverständliche
Antwort: Ja. Aber daraus hat sich bisher nicht die Konsequenz abgeleitet,
den Lehrerberuf im Allgemeinen und den für dieses Fächerspektrum
im Besonderen attraktiv zu machen. Mit Werbekampagnen, wie sie die Kultusminister
jetzt starten wollen, ist es nicht getan. Noch einmal sei an Pichts "Bildungskatastrophe"
erinnert: Nicht zuletzt sein Anstoß führte zu einer Neubewertung
des Lehrerberufs, in der Ausbildung wie der Besoldung. Da sind heute neue
Ideen und Umdenken gefragt.
Der Arbeitgeber Staat wird sich Anreize einfallen lassen müssen.
Eine gewisse Nervosität ist ausgebrochen und führt zu Aktionismus:
Nach Hessen will jetzt Nordrhein-Westfalen Gymnasiallehrer mit Geld und
mit internationalen Abschlüssen locken. Ist aber Master Lehrer attraktiv?
Viel dringlicher als diese Globalisierung wäre die Bereitschaft der
Länder, endlich ein Angebot an die rund 30 000 Lehrer zu machen, die
arbeitslos sind, weil ihre Fächer nicht gefragt sind. Das ist eine
Gruppe, die noch Lehrer werden will. Hier ist der Staat in der Pflicht,
das zu tun, was mit großer Selbstverständlichkeit von der privaten
Wirtschaft in dem dramatischen Strukturwandel der letzten Jahrzehnte eingeklagt
worden ist - er muss Weiterbildung und Umschulung anbieten. Aber die politische
Führung verschließt vor dieser Tatsache beharrlich die Augen.
Auch dieser Satz stammt von Georg Picht: 1964.
Copyright © Frankfurter Rundschau 14.03.2001