Ein alter Streit flammt wieder auf:

Warum folgt die Welt mathematischen Regeln?

Von Wolfgang Blum

"Das Wunder, daß sich die Sprache der Mathematik für die Formulierung der physikalischen Gesetze eignet, ist ein herrliches Geschenk, das wir weder verstehen noch verdienen", schrieb der US-amerikanische Mathematiker und Physiker Eugene Wigner vor knapp vierzig Jahren. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Ob klassische Physik, Quantenmechanik oder Relativitätstheorie, alles beruht auf Formeln. Doch warum funktioniert das? Weshalb folgt die Welt mathematischen Regeln? Die Lücke, die Wigner benannte, klafft noch immer in unserem Weltverständnis.
Die meisten Mathematiker kümmern sich indes wenig darum. Sie tun so, als ob sie über eine direkte Pipeline zur absoluten Wahrheit verfügten. Dabei berufen sie sich auf den griechischen Philosophen Plato, dem zufolge Zahlen und andere mathematische Objekte himmlische Ideale sind, die außerhalb von Raum und Zeit in einem Reich von Ideen existieren. Platonisten sehen mathematische Wahrheiten als unabhängig vom Menschen an. Alle Theoreme sind für sie schon immer wahr gewesen und werden es bis ans Ende der Zeit bleiben. Die Forscher erfinden sie nicht, sie finden sie nur - ähnlich wie Columbus Amerika entdeckte.
In den vergangenen Monaten geriet diese Ansicht gleich mehrfach unter Beschuß. Mathematiker wie Reuben Hersh von der Universität in Albuquerque (New Mexico), George Lakoff und Rafael Nuñez aus Berkeley oder Stanislas Dehaene vom Pariser Institut National de la Santé vertreten in ihren Büchern eine dezidiert antiplatonistische Sichtweise. Für Reuben Hersh beispielsweise wohnt die Mathematik weder in einer Ideenwelt noch in jemandes Kopf. Er sieht sie als "Teil der Kultur, wie das Recht, die Religion, das Geld". Mathematik existiere im kollektiven menschlichen Bewußtsein. Wissenschaftler würden sie nicht, wie Platonisten behaupten, entdecken, sondern sich ausdenken.
Im Internet werden solche Thesen inzwischen heftig diskutiert. Die New York Times beispielsweise hat ein spezielles Forum ("Pi in the sky") eingerichtet, und auch im Reality Club des Literaturagenten John Brockman zerbricht man sich den Kopf über die "Natur mathematischer Konzepte". Doch "die deutsche "community" scheint das Thema nicht zu interessieren", konstatiert Jochen Brüning von der Berliner Humboldt-Universität.

Hirnforscher haben den Rechner im Kopf lokalisiert.

"Es ist viel leichter, Mathematik zu treiben, als über sie zu philosophieren", sagt Verena Huber-Dyson von der Universität im kanadischen Calgary.
Deshalb wurstele die Mehrheit ihrer Kollegen vor sich hin, ohne sich Gedanken zu machen. Reuben Hersh findet für diese Denkfaulheit herbe Worte: "Ich vergleiche das mit einem Lachs, der flußaufwärts schwimmt. Er weiß, wie man stromaufwärts schwimmt, aber er weiß nicht, was er tut und warum."
Schon Albert Einstein bekundete: "Die ganzen Zahlen sind offensichtlich eine Erfindung des menschlichen Geistes, ein selbstgeschaffenes Werkzeug, das es erleichtert, bestimmte sensorische Erfahrungen zu ordnen." Stanislas Dehaene präzisiert die These: Da wir in einer Welt unterscheidbarer beweglicher Objekte lebten, brauchten wir Zahlen. "Sie in unserer Umgebung zu erkennen kann uns helfen, Raubtiere aufzuspüren oder den besten Futterplatz auszuwählen", erklärt der junge Mathematiker und Neuropsychologe. "Das ist für uns so grundlegend wie die Ultraschallortung für Fledermäuse oder der Gesang für Singvögel." Die ganzen Zahlen habe die Evolution in unserem Nervensystem fest verdrahtet und damit Mathematik in die Architektur unseres Gehirns eingraviert.
Als Beleg verweist Dehaene auf Hunderte von Versuchen, in denen Babys und sogar Tiere rudimentäre Rechenfähigkeiten zeigen. Säuglinge im Alter von fünf Monaten gucken irritiert, wenn vor ihren Augen zwei Mickymauspuppen hinter einen Schirm wandern, aber nur noch eine da ist, wenn der Schirm beiseite gezogen wird. Auch Schimpansen beweisen erstaunliches Rechengeschick: Werden sie mit zwei Tabletts konfrontiert, auf denen einmal drei plus vier Schokostückchen liegen, zum anderen zwei und drei Stückchen, so wählen die Tiere zielstrebig das Tablett mit den sieben Leckerlis. Sie wissen anscheinend, daß drei plus vier größer ist als zwei plus drei. Auch Rhesusaffen beweisen in ähnlichen Experimenten - mit Auberginen statt Süßigkeiten - ihr Talent. Sogar Ratten beherrschen einfache Kalkulationen: Forscher brachten ihnen bei, Hebel A mit zwei Tönen oder Lichtblitzen zu verbinden, Hebel B mit vier. Als die Nagetiere zwei Töne hörten und zwei Blitze sahen, drückten sie B.
In Untersuchungen von Hirnverletzten, die grundlegende mathematische Fähigkeiten verloren hatten, konnten Dehaene und andere Wissenschaftler die Rechenmaschine in unserem Kopf lokalisieren. Sie sitzt in einem Teil der Hirnrinde, dem sogenannten unteren parietalen Kortex, in dem visuelle, auditive und taktile Signale zusammentreffen. Wahrscheinlich ist diese - bisher nur wenig ergründete - Region zudem für Sprachverarbeitung und das Unterscheiden von links und rechts zuständig. Versuche mit gesunden Probanden, deren Gehirndurchblutung beim Kopfrechnen gemessen wurde, wiesen auf denselben Teil des Kortex als Zahlenverarbeiter.
Sind Zahlen demnach keine platonischen Ideale, sondern neurologische Schöpfungen - Methoden, mit denen das Gehirn die Welt erfaßt?
Dehaene vergleicht Zahlen mit Farben. Auch die gebe es nicht außerhalb unseres Kopfes. Bananen etwa erschienen uns gelb, auch wenn sich die Wellenlängen, die sie reflektierten, bei unterschiedlicher Beleuchtung komplett änderten. In allem, was über einfache Kalkulation hinausgeht, wie Multiplikation, Trigonometrie oder Differentialrechnung, sieht der Kognitionsforscher das Werk der menschlichen Kultur. So wie Literatur und Poesie aus einigen wenigen Worten, ein bißchen Grammatik und Syntax bestehe, webten wir aus einfachen Ideen die gesamte Mathematik.
George Lakoff und Rafael Nuñez von der Universität im kalifornischen Berkeley gehen ein Stück weiter. "Wir haben nicht nur mathematische Hirne, sondern auch mathematische Körper", behauptet Lakoff. Erster Beleg: unser Dezimalsystem. Mit ihren zehn Fingern spielend hätten unsere Vorfahren die Zahlen erkundet. Dann hätten sie bemerkt, daß sich durch Zählen der Schritte Abstände messen lassen. Dabei seien sie vermutlich auf abstraktere Konzepte gestoßen: In eine Richtung zu laufen wurde mit positiven Zahlen gleichgesetzt, in die entgegengesetzte Richtung mit negativen. Bewegte man sich senkrecht dazu, entstand eine zweite Achse: das, was wir heute ein kartesisches Koordinatensystem nennen. So baue sich Stock für Stock der Turm der Mathematik auf.
Zahlreichen mathematischen Konzepten sind Lakoff und Nuñez auf den Grund gegangen, darunter Logarithmen, Trigonometrie, komplexen Zahlen, Fraktalen. Ihr Fazit: Reine Gedanken gebe es nicht, alles basiere auf physischer Handlung. Beispiel Mengenlehre: Ob man sich die Elemente einer Menge vorstelle oder Stühle in einem Raum - die Vorstellung in unserem Kopf sei jeweils dieselbe.
Doch solchen Ansichten stimmen nicht alle Mathematiker zu: Ehrhard Behrends von der Freien Universität Berlin glaubt, die Erfahrung decke nur ein winziges Spektrum der Mathematik ab. Der Unendlichkeit etwa, einem der fundamentalsten Begriffe, stehe in der Wirklichkeit nichts gegenüber. "In den Naturwissenschaften haben uns gerade Abstraktionen, die von Erfahrungen wegführen, weitergebracht", sagt Behrends. Das Newtonsche Trägheitsgesetz, nach dem ein einmal in Bewegung gesetzter Körper ewig weiterfliegt, passe ebensowenig zu unserer Alltagswelt wie die berühmte Feder, die genauso schnell wie eine Kugel Blei falle, oder das absolute Tempolimit der Lichtgeschwindigkeit.
Newtons Gleichungen, Relativitätstheorie und Quantenmechanik bieten keinen direkten Überlebensvorteil. Letztere haben sogar mit unserer Erfahrung nicht das Geringste gemein. Daher fällt es auch so schwer, sie zu begreifen. Warum sollte uns die Evolution darauf getrimmt haben, die dahintersteckende Mathematik auszuklügeln? Auf diese Frage geben die neuen Ansätze keine befriedigende Antwort.
Dennoch: Die Formeln könnten sehr wohl menschengemacht sein und nicht gottgegeben. Denn sie erfassen das Universum nur so weit, wie wir das mit Beobachtungen und Experimenten überprüfen können. Würden Außerirdische ganz andere Naturgesetze formulieren? Platonisten sind sich sicher: Jede intelligente Spezies entwickelt zwangsläufig dieselbeMathematik wie wir. Denn sie muß aus derselben Ideenwelt schöpfen, die unabhängig vom Menschen existiert. Ein Kontakt mit Aliens könnte daher den Streit um den Platonismus eines Tages entscheiden. Treiben die Wesen auf fernen Planeten eine andere Mathematik, wäre der Platonismus widerlegt. Kennen sie Arithmetik, Differentialrechnung und Mengenlehre, muß das gleichwohl noch nichts heißen. Denn leben sie in einer ähnlichen Umgebung wie wir, könnte die natürliche Selektion ihrem Denkorgan dieselben Fähigkeiten eingebrannt haben. Hätten sie sich aber etwa in einer flüssigen Welt entwickelt, läge ihnen Dehaene zufolge das Wissen über Strömungen und Strudel näher. "In diesem Fall unterschiede sich ihre Mathematik radikal von der unseren."
Bis solch aquatische Kreaturen in die Debatte eingreifen, bleibt sie indes irdisch - und höchstwahrscheinlich offen.

[Auszug aus: DIE ZEIT 35/1998]
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