Philosophie der Mathematik

1. Allgemeines

Mathematik - daran scheiden sich die Geister: Die einen sind begeistert, andere verabscheuen sie mit Stolz. Nicht zu leugnen ist die ununterbrochene Präsenz und Notwendigkeit der Mathematik. Auch versuchen viele Wissenschaften jenen Grad an Exaktheit und Präzision zu erreichen, den die Mathematik vorgibt. Deshalb wird, sicherlich auch mit Recht, der Mathematik oft vorgeworfen, sie sei langweilig, langatmig, unverständlich und penibel.

Die Griechen bezeichneten dieses Gebiet als m a J h m a t i k h , was so viel heißt wie Wissenschaft, aber auch Wißbegier, Gelerntes oder Wissen schlechthin. Die Antwort auf die Frage, was Mathematik ist, unterliegt dem Wandel der Zeit. Eine klassische Definition ist: „Mathematik ist die Wissenschaft von Raum und Zahl (bzw. Quantität)". 1870 schreibt Charles Sanders Peirce „Mathematik ist die Wissenschaft, die notwendige Schlüsse zieht." Fest steht, daß Mathematik eine Geisteswissenschaft ist, denn Zahlen, Punkte und Funktionen kann man weder hören, schmecken, riechen noch sehen. Zwar kann man Symbole dafür schreiben und diese dann auch sehen, die Dinge an sich jedoch bleiben dem menschlichen Auge unzugänglich. Das einzige, womit der Mensch an die Mathematik herantreten kann, ist sein Gehirn, also sein Geist. Jede Wissenschaft braucht einen Erkenntnisgegenstand. Der der Mathematik kann nicht mit den menschlichen Sinnen wahrgenommen werden. Deshalb ist Mathematik eine Geisteswissenschaft.

Was der Erkenntnisgegenstand ist, ist nicht so einfach. Bis zu Beginn dieses Jahrhunderts kann man sicher Punkte, Zahlen, Körper und Mengen als solche bezeichnen. Seither steht aber die Form im Vordergrund, so wäre der Gegenstand das formale Schließen. Dieses wiederum ist aber auch ihre Methode.

Da Mathematik in vielen Büchern schriftlich festgehalten und geordnet ist, ist sie auch kritisierbar und, wenn auch nicht empirisch, sondern (nur) im Kopf, falsifizierbar. Daher ist Mathematik eine Wissenschaft im ganz modernen Sinne. Dazu kommt noch, daß sie intersubjektiv, d. h. von jedem Dritten, nachvollziehbar ist. Und dies so eindeutig, daß sich die Mathematik wieder einmal als vorbildhaft auszeichnet.

Weiters ist anzumerken, daß die in Büchern festgehaltene Mathematik nicht als Mathematik selbst bezeichnet werden kann. Sie kann ohne den Menschen nicht existieren, es gibt sie nur in den Köpfen der Menschen. Mathematik ist eine lebendige Wissenschaft. Verstaubte Bücher in alten Bibliotheken sind nicht Teil der heutigen Mathematik.

Die Mathematik unterscheidet sich im Wesen ganz eindeutig von allen anderen Wissenschaften. Sie fällt zwingende Urteile, weil sie notwendige Schlüsse zieht. Während zum Beispiel physikalische Aussagen der jeweiligen Zeit, ihrem Forscher und dem Experiment, sowie den Umständen unterworfen ist, gilt eine mathematische Aussage völlig unabhängig davon, wer sie wann trifft. Entscheidend für ihre Gültigkeit ist lediglich die richtige Herleitung. In allen Naturwissenschaften kommt es immer wieder zu Paradigmenwechseln, in der Mathematik nie. Eine mathematische Aussage ist immer gültig, es kann lediglich eine neue Theorie oder ein neues Gebiet geben, das den Sachverhalt anders wiedergibt.

Der wesentliche Unterschied mathematischer Aussagen zu den anderer Disziplinen liegt also darin, daß sie von der momentanen Wirklichkeit, was immer das auch sein mag, unabhängig gültig sind. Ob sie mit der Wirklichkeit zur Deckung kommen, ist Gegenstand der angewandten Mathematik und eigentlich nicht mehr das Problem der Mathematik selbst. Bei den Naturwissenschaften bestimmt die Wirklichkeit das Gesetz, in der Mathematik ist sozusagen das Gesetz die Wirklichkeit.

Sicherlich dient die Mathematik anderen Wissenschaften, man könnte sie in diesem Sinne zur Hilfswissenschaft degradieren, oder gerade darin die Krönung dieser Disziplin sehen. Fest steht, daß zumindest heutzutage die Mathematik auch eine selbständige Wissenschaft ist, die unabhängig von ihren Anwendungen betrieben wird. Ähnlich war dies auch schon bei den Griechen. Sie sahen die Mathematik als selbständige Disziplin an. Zu Newtons Zeiten wurde die Mathematik nur entwickelt, um mit den neuesten physikalischen Problemen fertig zu werden. Aber natürlich wird auch noch heute mathematische Forschung betrieben, um gewisse (technische) Probleme zu lösen. Wenn man also Mathematik als das definiert, was Mathematiker tun, so erfaßt man die eine wie die andere Seite, Mathematik als Mittel und Zweck. Diese Definition drängt aber natürlich sofort die Frage auf, was denn Mathematiker sind. Alle, die Mathematik betreiben? Ein unendlicher Zirkel entsteht. Die Frage, was Mathematik denn nun ist, scheint nicht so leicht zu bentworten zu sein.

Oft werden mathematische Theorien entwickelt und Probleme gelöst, um neue Naturerscheinungen besser zu verstehen. Aber es gibt genug Beispiele, wo zuerst die Mathematik da war, auf deren Grundlage man erst (viel) später eine physikalische Deutung entwickeln konnte. Dieser Aspekt ist von großer Relevanz für die Frage, warum die Welt so mathematisch ist (oder zu sein scheint). Oft wird Mathematik als sinnlose geistige Spinnerei abgetan. Ich denke, der Hinweis auf ihr überwältigend großes Anwendungsfeld und ihre Erfolge entkräftendiesen Vorwurf überzeugend.

2. Zur Geschichte

Die ältesten Funde, die auf einen Umgang des Menschen mit Zahlen hindeuten, sind im 35. Jahrtausend vor Christi anzusiedeln. Die ersten Bücher werden erst viel später geschrieben. Die Babylonier verfaßten erste mathematische Schriften um 5000 v. Chr.. Diese waren jedoch nur Aufgabensammlungen, spezielle Beispiele und geometrische Relationen. Die wirkliche mathematische Methode entwickelten erst die Griechen. Thales von Milet bewies als erster Sätze, die offensichtliche Wahrheiten darstellten, wie zum Beispiel „Der Durchmesser teilt den Kreis in zwei gleiche Teile." Er versuchte geometrische Sachverhalte auf einige wenige Sätze zurückzuführen, die Euklid später Axiome nannte. Euklid ging in seinem epochalen Werk „Die Elemente" von einigen wenigen Axiomen aus und baute darauf die gesamte euklidische Geometrie auf. Er bewies Schritt für Schritt, von den Axiomen ausgehend, mehr als 400 Sätze. Er definierte außerdem noch Dinge wie Punkt oder Gerade. Das Schema Definition - Satz - Beweis ist auch noch heute das in der Mathematik übliche.

Die Mathematik wurde im alten Griechenland ganz hoch geschätzt. Die Griechen legten noch den Schwerpunkt auf die Geometrie. Sie faßten auch die Zahlen als Strecken und Verhältnisse (gr. ratio - daher der Name rationale Zahlen) auf. Mit der Entdeckung der irrationalen Zahlen erfuhr dann die griechische Mathematik einen schweren Schock. Diese Entdeckung wird Hippasus von Metapont zugeschrieben. Er gehörte den Pythagoreern an, die alles in dieser Welt auf die Zahlen zurückführten. „Alles ist Zahl" ist der Leitfaden dieser fast religiös mystischen Gruppe. Der Satz stammt von Pythagoras von Samos, dem unangefochtenen Meister dieser Gemeinschaft. Für uns mag diese Philosophie heute etwas seltsam wirken, aber schlußendlich hat doch der recht, der „die Zahlen auf den Tisch legen" kann. Und es ist auch fraglich, ob Kepler wirklich die Planetengesetze gefunden hätte, wenn er nicht tief von dem Gedanken einer „Sphärenmusik" und eines klaren und offenen Zahlenverhältnisses, das zwischen den Planetenbahnen besteht, überzeugt gewesen wäre. Das ist aber auch nur Spekulation.

Danach folgt eine dunkle Zeit für die Mathematik. Es werden kaum neue Errungenschaften gemacht, erst mit dem florierenden Handel der italienischen Handelsstädte beginnt sie wieder an Bedeutung zu gewinnen. Die großen klassischen Werke der Griechen werden von den Arabern nach Europa gebracht. Zuerst findet man die Mathematik als reine Anwendung, v. a. in der Buchhaltung und im Rechnungswesen. Später kommen algebraische Gleichungen und die Zahlentheorie hinzu.

Kurz darauf stoßen die beiden Mathematiker Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz unabhängig voneinander auf die Differential- und Integralrechnung. Sie gehen noch sehr unbekümmert mit mathematischen Begriffen um. Vieles ersehen sie als evident, was schwer zu beweisen ist, trotzdem führt ihre intuitive Wahrnehmung schnell ans Ziel. Newton entwickelte die Infinitsemalrechnung, um auf ihr seine Physik aufbauen zu können. Dies gelingt ihm hervorragend in seinem Werk „Philosophiae naturalis principia mathematica". Erst später wird die Grundlage dafür geschaffen. Die verwendeten Begriffe und Formalismen werden ausgearbeitet, verschärft und gegeneinander präzise abgegrenzt.

Man stieß dann später auch auf die nichteuklidische Geometrie, was zu einem ganz neuen Gesichtspunkt in der Geometrie führte. Dadurch daß das Parallelenpostulat keine klare sichere Wahrheit darstellt, waren auch andere Geometrien denkbar. Diese hatten auch ihren Wahrheitsanspruch, wie sich später herausstellte, und werden heute selbstverständlich genau so wie die euklidische Geometrie akzeptiert.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entwickelte Georg Cantor einen neuen Zweig der Mathematik, die Mengenlehre. Es schien, daß mit ihr der große Durchbruch zu einer Vereinheitlichung der Mathematik kurz bevorstand. Es wird immer mehr Augenmerk den Grundlagen gewidmet, die gesamte Mathematik steht auf immer festeren Beinen, deren tragendes Element die oft fast unheimliche Strenge ist. Doch es stellt sich bald heraus, daß diese neue Begriffswelt einige Widersprüche in sich birgt. Vor allem ist davon die Mengenlehre betroffen.

Es kommt zur Grundlagenkrise. Bei den Lösungsversuchen dieser Krise bilden sich im wesentlichen drei philosophische Schulen heraus: Formalismus, Platonismus und Konstruktivismus. 1931 reicht Kurt Gödel mit seinem Unvollständigkeitssatz einen wesentlichen Beitrag zu dieser Diskussion nach.

3. Die axiomatische Methode

Während bei ägyptischen und babylonischen Mathematikern (falls man sie so nennen kann) die Frage nach dem „Wie" im Vordergrund steht, greifen die griechischen Denker erstmals die Frage nach dem „Warum" auf, sie suchen nach einer Begründung. Um komplexe Sachverhalte zeigen zu können, berufen sie sich auf einfachere Aussagen. Sie gehen Schritt für Schritt, den Gesetzen der Logik folgend, vor. Auf diese Art und Weise entstehen neue Aussagen, die Vorgangsweise ist deduktiv, d. h. es wird bewiesen.

Platon, der große Philosoph des Altertums, maß der Mathematik großen Wert bei und forderte so am Eingang seiner berühmten Akademie, daß kein der Geometrie Unkundiger eintrete. Platon selbst stellte sich die Frage nach dem Wesen und der Struktur der Mathematik. Die Anhänger Platons sind sich als erste des abstrakten Charakters der mathematischen Gegenstände bewußt. Sie unterscheiden die reale Welt ganz klar von der Welt der Ideen. Obwohl die Gegenstände der Wahrnehmung einem Wandel unterworfen sind und nur subjektiv wahrgenommen werden können, sind ihre Modelle unwandelbar, immerwährend und universell. Natürlich suchen die Philosophen der Akademie das wahre Wissen in der Welt der Ideen. Sie wollen das, was immer ist, kennenlernen und nicht das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt entsteht und wieder vergeht. Es sind die Eigenschaften des idealen Kreises, die sie interessieren, und nicht die flüchtige Natur der Kreiswellen im Wasser. Die von Euklid entworfene Denkweise ist somit der babylonischen weit überlegen. Die vorgriechischen Denker faßten geometrische Figuren eher als Sinneseindrücke denn als Denkgebilde auf. Prinzipiell empfanden sie zwischen den Aussagen, ein Würfel bestehe aus Quadraten als Seitenflächen, oder ein Würfel bestehe aus Holz, keinen Unterschied. Ganz anders sehen dies die Griechen. Thales erkennt, daß jedes im Halbkreis eingeschriebene Dreieck denknotwendig rechtwinkelig ist, egal, aus welcher Substanz es besteht und ob es genau konstruiert oder nur schematisch im Sand skizziert ist.

Diese Auffassung von Mathematik, die von der physischen Welt getrennt ist, zieht radikale Konsequenzen für Beweise nach sich: Es wird jeder Erfahrung entsagt, zulässig ist nur die Verwendung schon bewiesener Sätze.

Es wird also bei jedem Beweis auf noch offensichtlichere, intuitiv einleuchtendere Aussagen zurückgegriffen. Um z. B. zu beweisen, daß der Winkel im Halbkreis ein rechter ist, benötigt man den Satz „Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180°". Für diese Aussage muß man jedoch wiederum wissen, daß Stufenwinkel gleich sind. Dieses Reduzieren läßt sich aber nicht endlos fortsetzten. Einmal gelangt man zu so einfachen Aussagen, die sich nicht mehr beweisen lassen. Diese nennt man Axiome. Euklid hat in seinem Buch „Elemente" auf einigen wenigen Axiomen die gesamte damalige Mathematik aufgebaut. Er unterscheidet zwischen Postulaten und Axiomen. Diese beiden Begriffe sind aber heute gleichzusetzen. Euklid faßt seine Axiome als evidente Sachverhalte auf, so daß jede weitere Begründung sinnlos ist.

Während die ersten vier Postulate klar und kurz formuliert sind, ist das fünfte, das Parallelenpostulat, lang und kompliziert. Über viele Jahrhunderte hinweg haben viele große Mathematiker versucht, es mit Hilfe der anderen Axiome zu beweisen und es so zu einem einfachen Satz zu machen. Alle diese Versuche mißlangen, erst Gauß, Lobatschewskij und Bolyai konnten zeigen, daß auch andere Geometrien, sogenannte nichteuklidische Geometrien, denkbar und sogar sinnvoll sind. Auffallend ist hierbei, daß oft mathematische Erkenntnisse gleichzeitig und unabhängig von verschiedenen Mathematikern gefunden werden. Das deutet auf eine tiefere Wahrheit hin.

Euklid definiert auch die Grundbegriffe der Geometrie, wie Punkt („Ein Punkt ist das, was keinen Teil hat"), Gerade, Fläche usw.. Er benutzt diese Definitionen aber im weiteren Verlauf seines Buches nicht. Er will durch diese Beschreibung der Gegenstände der Geometrie dem Leser eine Idee von diesen Dingen vermitteln und sicherstellen, daß sich alle darunter das selbe vorstellen.

Mittlerweile ist man bezüglich der Definition von Grundbegriffen anderer Ansicht. Die Gegenstände mathematischer Theorien sind gewisse Objekte, das Augenmerk gilt aber den Relationen zwischen ihnen und den Operationen, die zu neuen Objekten führen. Definitionen setzten sich auch aus den Begriffen der Axiome zusammen. Sie sind also insofern überflüssig, als sie immer durch - zwar etwas längere und kompliziertere - Ausdrücke ersetzt werden können. Sie sind aber sehr hilfreich und nützlich, da sie dem Mathematiker eine neue intuitive Idee von Gegenständen geben und daher oft weiterhelfen. Der Kreis ist also nur ein Quasi-Gegenstand, der durch „der geometrische Ort alle Punkte, die von einem Punkt P den festen Abstand r haben" jederzeit ersetzt werden kann. Genauso kann man auch mit dem Begriff „Abstand" verfahren.

Seit Hilbert sieht man das Axiomensystem eben als Sprachspiel. Die Gegenstände stehen nur als Worthülsen in den Aussagefunktionen. Was zählt, sind lediglich die „Spielregeln". Wesentlich ist die Relation zwischen den Dingen, nicht die Dinge selbst. Man könnte auch, wenn dann die Axiome erfüllt sind, anstelle von Punkten, Geraden und Ebenen auch Tische, Stühle und Bierseidel sagen. Die Gegenstände sind allein durch die Axiome, d. h. durch ihre Beziehungen zueinander, festgelegt.

Dieser neue Gedanke eröffnet neue Möglichkeiten. So bestehen sogenannte Dualitäten zwischen manchen mathematischen Gegenständen. Da sich in allen Axiomen die Begriffe Punkt und Gerade vertauschen lassen, gelten alle Sätze, die für Punkte richtig sind, auch entsprechend für Geraden. Zwei Punkte bestimmen eine Gerade, und zwei Geraden bestimmen einen Punkt (wenn man für parallele Geraden einen fiktiven, unendlich fernen Punkt annimmt). Solche Dualitäten müssen aber nicht nur innerhalb eines einzigen Axiomensystems bestehen. Man kann den Gedanken der Griechen also auch umdrehen. Finden wir Dinge, die mit dem Axiomensystem übereinstimmen, sogenannte Modelle, so gelten auch alle Folgerungen aus dem Axiomensystem.

Auch müssen wir mit dieser neueren Auffassung die Sprache etwas korrigieren und zwischen wahr und richtig unterscheiden. Während Euklid noch seine Aussagen als wahr bezeichnete, können wir sie heute nur noch richtig nennen, das heißt von den Axiomen fehlerlos abgeleitet. Eine Verifikation mathematischer Aussagen ist nicht mehr sinnvoll, es kann nur noch die Natur in der Mathematik wiedergefunden werden. Ob mathematischen Aussagen der Charakter der Wahrheit zukommt, vermag die Mathematik nicht zu entscheiden. Dies ist eine Frage der Philosophie.

Aufgrund des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes ergibt sich sogar eine Unterscheidung zwischen wahr und beweisbar. Dabei ist zu beachten, daß „wahr" notwendig für „beweisbar" ist und „beweisbar" hinreichend für „wahr". Der engere Begriff von beiden ist also „beweisbar".

Im wesentlichen gibt es drei Forderungen, denen ein Axiomensystem genügen sollte: Widerspruchsfreiheit, Vollständigkeit und Unabhängigkeit.

Unabhängigkeit bedeutet, daß die Axiome voneinander unabhängig sind. Es sollte nicht möglich sein, ein Axiom durch ein anderes zu beweisen. Ein solches Axiom könnte dann als solches gestrichen und als Satz eingeführt werden. Man war über lange Zeit hin bemüht zu zeigen, daß das Parallenlenpostulat nicht unabhängig von den anderen ist. Diese Forderung setzt auch die Anzahl von Axiomen auf ein Minimum herab.

Widerspruchslosigkeit bedeutet, daß aus den Axiomen keinesfalls ein Satz und seine Negation abgeleitet werden können. Die Logik sagt, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, ein drittes gibt es nicht, „tertium non datur". Ist eine Theorie nicht konsistent, d. h. widerspruchsfrei, so ist sie vollkommen unbrauchbar, da aus ihr alles deduziert werden kann.

Während die Widerspruchsfreiheit garantiert, daß man nie auf die beiden Aussagen a und ¬a kommt, garantiert die Vollständigkeit, daß die Frage „gilt a oder ¬a?" sich immer eindeutig beantworten läßt. Natürlich muß dabei jede Aussage eine einschlägige und generelle sein. Es kann natürlich aus den Axiomen der natürlichen Zahlen weder mein Alter, noch die Körpergröße eines bestimmten Menschen gefolgert werden. Man kann nur einschlägige Urteile behandeln.

Bei jedem Modell, das der Wirklichkeit entsprechen soll, ist sein Gehalt von großer Bedeutung. Hinsichtlich dieses Gehaltes sind zwei Komponenten zu unterscheiden. Einerseits soll es mit Hilfe der Theorie möglich sein, viele wahre Aussagen über den Gegenstand zu treffen und andererseits soll die Theorie viele mögliche Widerlegungsmöglichkeiten bieten. Die Mathematik ist in dieser Hinsicht ein sehr gutes Vorbild. Die erste Forderung wäre durch die Vollständigkeit erfüllt, die zweite dadurch, daß die Mathematik oft sehr exakte und allgemeine Aussagen über ihre Gegenstände trifft.

Das Vorbild der Axiomatik in der Mathematik blieb von anderen Wissenschaften nicht unbeachtet. So versucht die Physik die Mathematik in diesem Punkt nachzuahmen. Dies gelingt sehr gut, die Erfolge der modernen, wie der newtonschen Physik belegen dies. Aber auch in der Philosophie beschritt man diesen Weg der Mathematik. So entwarf Spinoza ein Axiomensystem der Ethik, aus dem er viele ethische Normen abzuleiten versuchte.

4. Die drei Schulen - Formalismus, Platonismus, Kostrunktivismus

Als zu Beginn unseres Jahrhunderts die Mathematik durch die Antinomien der Mengenlehre erschüttert wurde, boten sich im wesentlichen drei Lösungen an. Diese formierten sich und bezogen gegeneinander teilweise vehement Stellung.

Eine dieser philosophischen Richtungen ist der Formalismus, dessen Vorreiter der damalig führende Mathematiker David Hilbert war. Die Formalisten lösen die Probleme der Grundlagen dadurch, daß sie Mathematik rein als Spiel mit Axiomen auffassen. Mathematik wird vom Menschen erfunden, da die Axiome eine Schöpfung des Menschen sind. Man hat sich unter Dingen, wie Punkte oder Zahlen nichts vorzustellen, sie sind nur Worthülsen, nur die Axiome grenzen ihre Bedeutung zueinander ab. Die Gegenstände sind durch die Axiome implizit definiert. Intuition hat also in der Mathematik nichts verloren. Zwar hatte Hilbert sicherlich ganz klar das vor Augen, was wir alle unter „Punkt" verstehen, als er sein Buch „Grundlagen der Geometrie" verfaßte, für die Beweise sind jedoch nur die Axiome ausschlaggebend. Hilbert gibt uns mit seiner abstrakten Mathematik zu unserer Vorstellung noch die Sicherheit dazu, daß uns unsere Intuition nicht getäuscht hat. Daß sich die Mathematik in den Naturwissenschaften oft mit riesigem Erfolg anwenden läßt, ist zwar schön und gut, aber nicht von Interesse für die Mathematik. Hilbert entwarf ein ehrgeiziges Programm, das die Mathematik einige Schritte weiter brachte. Noch dazu war er ein genialer Wissenschaftler. Das Ziel seines Programmes bestand darin, eine Metamathematik zu entwerfen. Erstes Ziel hierbei ist es, ein vollkommen formales Axiomensystem zu entwickeln, aus dem sich die ganze Mathematik ableiten läßt. Und zweitens forderte er, daß dieses Axiomensystem widerspruchsfrei und vollständig sein soll. Dies gelang ihm mit der Geometrie, das gesamte hilbertsche Programm mußte aber scheitern, wie Gödel später zeigte.

Der Großteil der Mathematiker sind Platonisten. Sie glauben fest daran, daß es so etwas wie eine Idee der Zahl, des Punktes und der Unendlichkeit gibt, deren weiterreichende Bedeutung wir erst im Laufe der Geschichte entdecken. Die Axiome sind nur ein faszinierendes Mittel, das riesige und wahrhaftige Universum der Ebenen, Primzahlen und Unendlichkeiten zu beschreiben. Einen wissenschaftlichen Beweis für die Auffassung der Mathematik als Wirklichkeit gibt es nicht, man kann es nur glauben, es ist bloß Dogma.

Die Konstruktivisten oder Intuitionisten unterscheiden sich nicht nur in Herkunftsfragen von den anderen, sondern auch wesentlich in methodischen. Sie nehmen die natürlichen Zahlen als intuitiv gegeben an und akzepieren nur Dinge, die sich in endlich vielen Schritten aus den natürlichen Zahlen konstruieren lassen. Besondere Vorsicht ist also bei unendlichen Mengen gegeben, wo sie zum Beispiel den Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht akzeptieren. Ihre Logik und ihr Umgang mit dem Unendlichen ist oft schwer zu verstehen und führt meist zu überraschenden Aussagen. Mathematik ist ihrer Ansicht nach ein Konstrukt des menschlichen Geistes. Hier halten sie es mit den Formalisten. Ihr Begründer Luitzen Egbertus Jan Brouwer versuchte diese Auffassung der Mathematik populär zu machen und stieß dabei immer wieder auf massiven Widerstand. Brouwers einseitige, nur die intuitionistische Denkweise anerkennende Auffassung zur Begründung der Mathematik, sowie seine leidenschaftlich vertretene irrationalistische Weltanschauung stießen bei vielen Mathematikern auf Ablehnung. Nichtsdestotrotz war er ein genialer Mathematiker, was seine Lösung des fünften Problems von Hilbert, das dieser 1900 auf seinem berühmten Pariser Vortrag formulierte, beweist.

Natürlich gibt es auch (leider) eine große Gruppe von Mathematikern, die von Fragen dieser Art noch nichts gehört haben, bzw. nichts hören wollen. Diese Gruppe von Agnostikern sind meist mit der konkreten Mathematik sehr nah verbunden und besonders auf den wissenschaftlichen Erfolg bedacht. Da tritt dann die Frage nach einer philosophischen Begründung der Mathematik verständlicherweise in den Hintergrund.

Ich will nun auf die Kontinuumshypothese etwas näher eingehen und an ihr zeigen, welche Folgen die verschiedenen philosophischen Auffassungen nach sich ziehen und wie stark die Meinungen selbst im Mathematikeralltag divergieren. Das alles ist nicht sinnloses Gerede von Philosophen über Dinge, die Mathematiker nicht berühren, sondern von höchster Brisanz für jeden Mathematiker, der sein Fach ernst nimmt.

Georg Cantor begründete Ende des vorigen Jahrhunderts die Mengenlehre. Er stieß damit in der Fachwelt teilweise auf starken Widerstand, konnte jedoch auch auf große Erfolge verweisen. Die große Faszination, die die Mengenlehre ausstrahlt, ist sicherlich u. a. auch auf die Einfachheit ihrer Begriffe zurückzuführen, mit welchen sich aber eine umfangreiche Theorie entwickeln läßt. So läßt sich von ihr die gesamte Arithmetik ableiten, auf welcher man dann später die Geometrie aufbauen kann. Auch Gebiete wie die Topologie und Logik stehen in naher Verwandtschaft zur Mengenlehre.

Mengen kann man grundsätzlich nach der Anzahl ihrer Elemente einteilen, in endliche und unendliche. Die Mächtigkeit einer Menge bezeichnet bei einer endlichen Menge die Anzahl der Elemente. Cantor gelang es zu zeigen, daß auch die unendichen Mengen in ihrer Mächtigkeit in verschiedene unendliche Kardinalzahlen zu unterscheiden sind. Er bezeichnete die Mächtigkeit der natürlichen Zahlen mit À 0. Alle Mengen, die sich den natürlichen Zahlen eineindeutig zuordnen lassen, haben die selbe Mächtigkeit. Eineindeutig heißt, daß sich jedem Element der einen Menge ein Element der anderen zuordnen läßt und umgekehrt. Es gibt also eine bijektive Abbildung zwischen diesen beiden Mengen. So haben zum Beispiel die geraden Zahlen die gleiche Mächtigkeit wie die natürlichen: Der natürlichen Zahl n wird das Element 2n zugeordnet. Diese Zuordnung ist eineindeutig. Die rationalen Zahlen haben auch die selbe Mächtigkeit wie die natürlichen. Man kann sich eine unendlich lange Liste ausdenken, in der jede rationale Zahl vorkommt. Die Reihenfolge in dieser Liste ist eindeutig, man kann von jeder der Zahlen sagen, an welcher Stelle sie steht. Gerade diese Numerierung stellt eine Zuordnung zwischen den natürlichen und den rationalen Zahlen dar.

Wir wollen nun versuchen, die Mächtigkeit des Kontinuums, das heißt der reellen Zahlen zu bestimmen. Denken wir uns eine unendlich lange Liste mit reellen Zahlen des Intervalls [0, 1] in Dezimalbruchschreibweise. Die endlichen Dezimalbrüche sollen der Eindeutigkeit wegen am Ende unendlich viele Nullen haben, Neunerperioden werden nicht notiert, sie sind schon als die gleiche Zahl erfaßt. 0,25 wird also 0,2500000¼ geschrieben, 0,39999999.... als 0,4000000¼ . Man kann nun eine unendliche Dezimalzahl y konstruieren, die in der Liste noch nicht erfaßt ist. Sie beginnt, wie auch alle anderen Zahlen der Liste mit 0,... danach entwickeln wir die Zahl wie folgt: Ist die erste Ziffer nach dem Komma gleich 5, so schreiben wir bei y an dieser Stelle 4, wenn die erste Stelle ungleich 5 ist, so schreiben wir bei y an die erste Stelle nach dem Komma 5. Entsprechend verfahren wir mit allen anderen Stellen. Unsere Zahl y unterscheidet sich also zumindest an der n-ten Stelle von der n-ten Zahl unserer Liste. Es vermag also keine auch noch so lange und ausgeklügelte Liste das Kontinuum im Intervall [0,1] zu fassen. Hilbert bezeichnete ihre Mächtigkeit mit À 1. Die Kontinuumshypothese ist die Behauptung, daß es zwischen den beiden Mächtigkeiten À 0 und À 1 keine weitere unendliche Kardinalzahl gibt. Kurt Gödel und P. J. Cohen zeigten, daß auf Grundlage der formalen Mengenlehre die Kontinuumshypothese weder bewiesen (Gödel, 1937) noch widerlegt werden kann (Cohen, 1964).

Daß unsere Intuition beim Umgang mit Unendlichkeiten oft versagt und wir uns täuschen, will ich an einem weiteren Beispiel zeigen. Die Mächtigkeit der Punkte auf der Strecke [0, 1] ist gleich der des Quadrates mit der Seitenlänge 1. Die Zuordnung geht wie folgt vor sich: Jeder Punkt des Quadrates ist durch zwei Koordinaten eineindeutig beschrieben. Diese Koordinaten können im obigen Sinne als unendliche Dezimalzahlen geschrieben werden. Es läßt sich nun jedem Punkt des Quadrates eineindeutig einer der Strecke zuordnen. Der Punkt P mit den Koordinaten 0,abcdefg¼ und 0,ABCDEFG¼ wird dem Punkt 0,aAbBcCdD¼ zugeordnet. Der Streckenpunkt mit der Koordinate 0,abcdefghi¼ wird dem Punkt des Quadrats mit den Koordinaten 0,acegi¼ und 0,bdfh¼ zugeordnet. Diese Zuordnung ist zwar nicht stetig, aber sie ist eineindeutig. Es liegt also die gleiche Mächtigkeit vor, obwohl es sich um verschiedene Dimensionen handelt. Das geht über die Vorstellungskraft der meisten Menschen hinaus. Cantor, der dies als erster zeigen konnte, schreibt an Dedekind: „Ich sehe es, aber ich glaube es nicht."

Kehren wir wieder zurück zur Kontinuumshypotese, um konkrete Folgen der philosophischen Auffassungen zu sehen. Ein Platonist würde bei dem Problem der Kontinuumshypothese sagen, daß ganz einfach unser Axiomensystem nicht fähig ist, die Wirklichkeit zu beschreiben. Aber es steht bestimmt fest, ob es eine unendliche Kardinalzahl zwischen À 0 und À 1 gibt, unsere Mittel, d. h. die Axiome reichen aber nicht dazu aus, die Frage danach zu beantworten. Wir verstehen die reellen Zahlen noch nicht gut genug, um eine Antwort zu finden.

Diese Argumentation versteht der Formalist nicht. Es gibt ja keine reellen Zahlen, außer wir schaffen sie durch die Axiome. Würden wir ein Axiom hinzufügen, liegen ganz andere Gegenstände vor. Auf keinen Fall kann man eine bessere Übereinstimmung mit der Realität anstreben, denn eine Realität gibt es nicht.

Die Konstruktivisten halten ein solches Gerede über unendliche Mengen für leeres Gefasel, das keinerlei (mathematischen) Sinn hat, es ist Zeitverschwendung. Sie befassen sich nur mit Dingen, die sich durch endliche Konstruktion aus den natürlichen Zahlen erzeugen lassen.

Ich will noch an einem weiteren Beispiel die Gründe für konstruktivistisches Denken etwas aufhellen. Man denke sich ein Intervall AB, auf der unendlich viele Punkte rot gefärbt sind, die restlichen Punkte des Intervalls sind schwarz. Um nun die Häufungsstelle von roten Punkten, den roten Fleck, zu finden, bedient man sich des Verfahrens von Bolzano. Bolzano halbiert das Intervall. Nun müssen sich zumindest noch auf einem der beiden Teilintervalle unendlich viele rote Punkte befinden. Denn wären in beiden Intervallen nur noch endlich viele rote Punkte, so kann ihre Gesamtzahl nicht unendlich sein. Mit dem entsprechenden Teilintervall wird wieder gleich verfahren. So wird geteilt und geteilt, bis man dem roten Fleck beliebig nahe gekommen ist. Brouwer lehnte dieses Verfahren ab, er stellte die Frage: Wie bringt man nach der Teilung in Erfahrung, welche der beiden Teilstrecken mit Sicherheit unendlich viele rote Punkte trägt?

Nur wenn man Glück hat, sind in einem der beiden Intervalle endlich viele rote Punkte und das Zählen der Punkte findet ein Ende. Wenn jedoch in beiden Teilintervallen unendlich viele Punkte sind, so wird man nie entscheiden können, mit welchem Intervall man fortfahren muß. Vorzeitig abbrechen kann man den Zählvorgang auch nicht, da man ja die Gewißheit nicht hat, daß beide Intervalle unendlich viele rote Punkte enthalten. So bringt Brouwer die Argumentation Bolzanons zu Fall. Aber er geht noch weiter und sagt: Trennt man eine unendliche Menge in zwei Teile, so kann man nicht davon ausgehen, daß mindestens eine der beiden Teilmengen unendlich bleibt. Brouwers scharfe Analyse läßt Cantors lockeren Umgang mit dem Unendlichen lächerlich aussehen.

Dieses strenge Argumentieren läßt uns hoffen, absolut sicher sein zu können, endlich ans Ziel gelangt zu sein. Hermann Weyl, ein Schüler Brouwers hat gesagt: „Brouwer, das ist die Revolution!" Um nochmals die unterschiedliche Sichtweisen Cantors und Brouwers zu verdeutlichen, betrachten wir die Ludolphsche Zahl p = 3,141592653589793¼ Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Auffassungen ist die Sichtweise der drei Punkte ¼. Cantor sieht in ihnen alle Ziffern ps repräsentiert, Brouwer meint, sie verdeutlichen nur, daß es uns möglich ist, beliebig viele Stellen danach zu bestimmen. Cantor postuliert, daß es schon von vornherein die Ziffernfolge gibt, wenn wir sie berechnen, dann entdecken wir nur (einen Teil) dieser ganzen Folge von Zahlen. Brouwer würde es nie einfallen von allen Ziffern zu sprechen, er meint uns ist eine unendliche Dezimalzahl ist uns gegeben, wenn wir sie auf beliebig viele Stellen berechnen können.

Aber wozu eine so heiße Diskussion über drei Punkte? Um dies verstehen zu können, wollen wir uns eine Folgerung Brouwers daraus ansehen. Wir konstruieren eine unendliche Dezimalzahl y auf folgende Weise: y beginnt vor dem Dezimalpunkt mit 0. Die Ziffern bestimmen wir mit Hilfe von p: Ist die erste Ziffer von p nach dem Dezimalpunkt eine 7, so ist die erste Stelle von y 9, ansonsten 0. Sind die zweite und die dritte Stelle von 7, so ist die zweite Ziffer von y 9, ansonsten 0. Allgemein gesprochen lautet das Prinzip zur Konstruktion von y: Hat p ab der n-ten Stelle eine Siebenerblock der Länge n, so ist die n-te Stelle von y gleich 9, ansonsten 0. Offensichtlich lautet die erste Näherung von y auf 27 Stellen genau y = 0,00000000000000000000000000¼. Wir werden wohl nie ein allgemeines Gesetz zur Auffindung von Siebenerblöcken bei p finden und wenn, dann denkt sich Brouwer eine noch kompliziertere Dezimalzahl aus, bei der uns dies dann nicht mehr möglich ist. Unsere einzige Möglichkeit y zu bestimmen besteht also darin, alle Stellen nach der Reihe zu berechnen. Diese wird sehr lange dauern. Da wir höchstwahrscheinlich nicht erfolgreich sein werden und den langen Siebenerblock finden, wird sich y nicht von Null unterscheiden. y ist aber auch nicht gleich Null, denn vielleicht finden wir ja eines Tages ab der 89 Billiardsten Stelle einen ebenso langen Siebenerblock. Dann wäre y ungleich Null. Wir können also grundsätzlich nicht sagen, ob sich y von Null unterscheidet oder nicht. Oder anders sagt Brouwer: Aus der Falschheit der Aussage „Die unendliche Dezimalzahl j ist gleich Null." kann man nicht unbedingt, d. h. zwingend, folgern, j sei ungleich Null. Hantiert man mit dem Unendlichen, so ist größte Vorsicht geboten, das tertium non datur gilt hier nicht mehr.

Um die Mathematik verstehen zu können muß man ihre Grundbegriffe voll verstanden haben. Einer dieser ist der der Zahl. Bemerkenswert dabei ist, daß sich „Zahl" noch weiter reduzieren läßt und zwar auf eine eineindeutige Zuordnung. Denn was machen wir, wenn wir Äpfel zählen? Wir ordnen jedem Apfel eine Zahl zu und umgekehrt.

Die Zahl „drei" zum Beispiel ist jene Eigenschaft, die alle Mengen mit drei Elementen haben und die sonst keine Menge hat. dazu sei noch bemerkt, daß ein Trio weder eine Zahl, noch ein Beispiel dafür ist. Es ist ganz einfach ein Beispiel für eine besondere Zahl, die wiederum als Beispiel für „Zahl" stehen kann.

Wir können also „zwei" als die Menge aller Duos auffassen, „drei" als die Menge aller Trios u. s. w.. Bestimmte Zahlen sind also Mengen von Mengen: Alle Duos (alle Mengen mit zwei Elementen) werden zu einem Bündel, einer Menge, zusammengefaßt für die der abstrakte Begriff „zwei" steht. Faßt man dann alle (unendlich viele) solcher Bündel zusammen, so hat man alle Zahlen erfaßt.

Nun ließe sich einwenden, wie läßt sich feststellen, ob eine Menge ein Duo oder ein Trio ist, ohne zu wissen, was „zwei" und „drei" ist, ohne zählen zu können. Hier aber hilft unsere Reduktion der Zahl auf Zuordnungen weiter. Wir ordnen ganz einfach jedem Element der noch unbekannten Menge ein Element der Menge mit bekannter Mächtigkeit zu und stellen bei gleicher Elementanzahl die gleiche Mächtigkeit fest und ordnen sie so diesem Bündel von Mengen zu.

Schon vor Urzeiten pflegten die Menschen etwa so zu zählen. Für jedes Stück Fleisch, das sie erhielten legte sie einen Stein zu Seite. Um feststellen zu können, wer mehr Fleisch bekommen hat, brauchte man nur die Steineanzahl wieder miteinander zu vergleichen.

5. Literatur

[Auszug aus: Thomas Steiners homepage]
zurück