Platonismus - Formalismus - Konstruktivismus

In der Philosophie der Mathematik wird gefragt, worin die eigentliche Natur mathematischer Objekte besteht. Zum Beispiel die Zahl 7 - wenn ich die Zahl 7 aufschreibe, ist das dann nur ein Zeichen auf dem Papier oder ist die 7 ein Gedanke in meinem Kopf, oder aber: klebt die Zahl 7 auf mysteriöse Weise an allen Ansammlungen von Dingen, deren Anzahl genau 7 beträgt (7 Stühle, 7 Lutscher, 7 Schüler usw.)?
Wenn das letztere richtig sein sollte, dann müßte man fragen, an welchem Haufen von Dingen z.B. die Zahl Null vorkommt oder die Zahl -7.
Es gibt im Wesentlichen drei große Richtungen in der Philosophie der Mathematik. Jede beantwortet diese Fragen anders: Platonismus, Formalismus und Konstruktivismus.

1. Im Platonismus sind mathematische Objekte real. Sie existieren außerhalb des Raumes und der Zeit. Sie sind unveränderlich, sie wurden weder geschaffen, noch werden sie sich je verändern oder auflösen. Dem Platonismus zufolge ist ein Mathematiker ein ebenso empirischer Wissenschaftler wie ein Geologe - er kann nichts erfinden, da alles bereits vorhanden ist. Es bleibt ihm nur, die Dinge zu entdecken.
Kurt Gödel bewies, daß es wahre mathematische Sätze gibt, die man nicht beweisen kann (Gödelscher Unvollständigkeitssatz) - ein mathematischer Satz mit weitreichenden philosophischen Konsequenzen.

2. Der Formalismus geht dagegen davon aus, daß es KEINE mathematischen Objekte gibt. Die Mathematik besteht nur aus Axiomen, Definitionen und Sätzen - mit anderen Worten aus Formeln. Es gibt, extrem gesehen, Regeln, mit deren Hilfe man eine Formel aus der anderen ableitet. Aber die Formeln geben keine Auskunft ÜBER etwas, sie sind einfach Zeichenketten, Zeichen auf dem Papier.
Wenn man einer Formel eine physikalische Interpretation gibt, erhält sie einen Inhalt und kann wahr oder falsch sein. Doch dieses Wahr oder Falsch hängt mit der besonderen physikalischen Interpretation zusammen. Eine rein mathematische Formel hat weder eine Bedeutung noch einen Wahrheitswert. Ähnlich argumentiert der sogenannte Logizismus (Russell, Hahn).- Er sagt, daß sich mathematische Wahrheiten auf logische zurückführen lassen.
Die Mathematik ist eine gigantische Tautologie.
Etwas überspitzt könnte man sagen: In der Mathematik ist, wie in der Philosophie (Kant!) und vielleicht sogar in der Kunst (Gottfried Benn!) - der Formalismus die Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln.
Der amerikanische Mathematiker P.J.Davis hat dieses ganze Dilemma einmal auf witzige Weise so ausgedrückt: "Der typische Mathematiker ist an Werktagen Platonist und an Sonntagen Formalist."

3. Einen etwas extremeren Standpunkt vertritt der sogenannte Konstruktivismus: nur das ist echte Mathematik, was sich durch eine endliche Konstruktion erzeugen läßt. Die Menge der natürlichen Zahlen zum Beispiel ist so nicht zu erzeugen - sie ist ein Notbehelf und zählt nicht zur echten Mathematik.

[Auszug aus: Philosophie der Mathematik]
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