Zur Geschichte der Mathematik am Beispiel der Analysis

Von Michael Wolff

Zur Besonderheit der Mathematik als Wissenschaft

Bevor ich über einige Aspekte der Geschichte der Mathematik spreche, möchte ich auf die berechtigte Frage eingehen, was denn Mathematik eigentlich ist. In Auseinandersetzung mit dieser Frage werden nicht nur die Leistungen unserer mathematischen Vorfahren aus Jahrtausenden besser zu würdigen sein, auch wird der Gegenstand klarer, den Sie sich zum Studium ausgewählt haben.
Was ist nun die Mathematik?
Meyers Taschenlexikon von 1963 beschreibt sie als "Wissenschaft von den Zahlen und Raumgrößen, die die Eigenschaften und den wechselseitigen Zusammenhang dieser Größen mittels abstrakter Begriffe, Zeichen und Formeln untersucht."
Und etwas konzentrierter drückt es die Mathematische Enzyklopädie von 1982 aus: "Wissenschaft von quantitativen Verhältnissen und räumlichen Formen der realen Welt."
Sicher wird vielen, besonders Nichtmathematikern, das erst einmal genügen, so richtig froh bin ich mit diesen Definitionsversuchen nicht. Sie scheinen mir zu sehr von außen auf die Mathematik geschaut.
Die beiden Mathematiker Marc Kac und Stanislaw Ulam versuchen sich in ihrem sehr lesenswerten Buch "Mathematik und Logik" nicht an einer ausgefeilten Definition, sondern beschreiben die Besonderheiten der Mathematik, die ihr im Denken und im Vergleich zur realen Welt zukommen.
Sie sehen die Mathematik als "in sich abgeschlossenen Mikrokosmos, der jedoch die starke Fähigkeit zur Widerspiegelung und Modellierung beliebiger Prozesse des Denkens und wahrscheinlich der ganzen Wissenschft überhaupt besitzt."
Laut neuem Taschenbuch der Mathematik des Teubner-Verlages stellt die Mathematik das mächtigste Instrument des menschlichen Geistes dar, um die Naturgesetze präzise zu formulieren und eröffnet Möglichkeiten, in die Welt der Elementarteilchen sowie in die Weiten des Universums vorzudringen.
Ohne Mathematik wäre unser heutiges Leben, ja unser Überleben angesichts der gravierenden, von uns selbst geschaffenen gesellschaftlichen und ökologischen Probleme nicht denkbar.
Der Ehrlichkeit halber sage ich es gleich: Ohne Mathematik gäbe es natürlich auch keine Atombomben und Massenvernichtungswaffen, der Golfkrieg wäre so nicht möglich gewesen.

Die Menschen berechnen die Statik von Häusern und Brücken, bauen diese nach den Plänen, und die Bauwerke halten - bis sie einstürzen. Die Realität kennt auch Fehler und Pfusch.
Somit wird die Mathematik, genauer werden die Ergebnisse ihrer Anwendungen, zu unserer Realität. Flugzeuge fliegen, Computertomographen arbeiten so, wie es berechnet und gewollt wurde. Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit. Diese pragmatische Sicht sollten wir nicht vergessen, zumal sie auch ständige Quelle von Motivation und Inspiration in der mathematischen Forschung ist.
In diesem Sinne ist die Mathematik nach Ihrem Studium Ihr Handwerkszeug, vergleichbar der Werkzeugtasche eines Elektrikers. So wie Bäcker, Bauer oder Lokführer werden auch Sie mit Ihren mathematischen Kenntnissen und Fertigkeiten ein weiteres vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein, sofern Sie natürlich einen Job bekommen.

Aber wie Sie wissen, umfaßt die Mathematik wesentlich mehr. Das zeigt sich nicht zuletzt auch darin, daß Versuche, die Mathmatik wie die Wissenschaft überhaupt zuallererst nach klingender Münze zu beurteilen oder gar als lästigen Kostgänger zu behandeln, recht bald zu Stagnation der Wissenschaften selbst und rückwirkend zu sich vergrößernden Defiziten in der Gesellschaft führen.

Wenden wir uns nun der inneren Seite der Mathematik zu.
Die Mathematik arbeitet mit abstrakten Objekten und ihre Methode - die des logischen Schließens - ist auch abstrakt. Gerade durch dieses Schließen, durch den mathematischen Beweis wurde die Mathematk vor etwa 2500 Jahren im antiken Griechenland zu einer Wissenschaft.
Zuerst werden einige als wahr angenommene Sätze - die Axiome - postuliert, dann werden nach strengen logischen Regeln neue Aussagen aus diesen abgeleitet.
Also könnten wir die Mathematik als Wissenschaft des logischen Schließens betrachten?
Aber wohin soll die Reise gehen? Eine einfache Kette von logischen Schlüssen ist sicher noch keine Mathematik. Wir wählen diejenigen Sätze aus, die eine möglichst große Klasse von Spezialfällen umfassen, wir wollen, daß Beweise "elegant" und "schön" sind.
Die mathematische Methode umfaßt also mehr als nur die Logik. In diesem Sinne ist Mathematik auch eine Kunst. Obwohl Schönheit subjektiv ist, haben die Mathematiker ähnliche Vorstellungen darüber, was ein "schöner Beweis" ist. Hieraus erwachsen Anforderungen, die Sie als Studierende besonders im ersten Semester zu schaffen machen. Das "Lernen" von Definitionen und Sätzen reicht oft nicht aus, um eigenständig Aufgaben zu lösen. Sie fragen z.B., wie man "sieht", daß dieser oder jener Weg zum Ziel führt. Die Spezifik des Mathematik-Studiums besteht auch darin, daß Studierende und Lehrende gemeinsam Sätze beweisen, Beispiele rechnen, nicht nur "erklären", sondern erarbeiten. Deswegen wird z.B. in einer Mathematik-Vorlesung der Stoff vom Vortragenden entwickelt und an die Tafel geschrieben, dabei vermittelt er seine Gedanken und Absichten. Selbst ein langsames Vorlesen von an die Wand projizierten Folien oder gar Lesen einer Vorlesung im Internet kann nicht das eigenen "Durchleben" der Mathematik durch den Vortragenden ersetzen.
Die allerersten mathematischen Objekte waren die natürlichen Zahlen und einfache geometrische Objekte wie Punkte, Geraden, Dreiecke usw. Sie schienen so vertraut, daß sie lange Zeit als gegeben angesehen wurden, erst zu Ende des 19. Jahrhunderts wurde z.B. von Peano, Russel, Hilbert in stärkerem Maße nach ihren Grundlagen gefragt.
Von den ersten Objekten wird zu immer komplizierteren Objekten geschritten, zu Mengen von Zahlen, zu Abbildungen zwischen derartigen Mengen, zu Klassen solcher Abbildungen und zu Abbildungen zwischen diesen Abbildungen usw.
Diese mathematischen Objekte sind Abstraktionen! Den (idealen) Kreis gibt es nur im Denken, kein noch so gut gearbeitetes Rad wird einen wirklichen Kreis darstellen. Dafür ist der Kreis aber frei von allen Besonderheiten, die noch dem konkreten Rad anhafteten.
In diesem Sinne enthalten die Mathematischen Objekte weniger als ihre Vorbilder aus der realen Welt. Dieses Weniger erweist sich in mathematischer Hinsicht gerade als das entscheidende Mehr beim Gewinn neuer Erkenntnisse.

Ein Wesenszug der Mathematik ist es auch, mit Objekten zu arbeiten, ohne sie zu definieren.
So schreibt Hilbert in seinen berühmten "Grundlagen der Geometrie" im Jahre 1899:
"Wir denken drei verschiedene Systeme von Dingen: die Dinge des ersten Systems nennen wir Punkte ..., die Dinge des zweiten Systems nennen wir Geraden ..., die Dinge des dritten Systems nennen wir Ebenen ..."
Das ist schon alles, dann kommen die Axiome, die sagen, in welchen Beziehungen die Punkte, Geraden und Ebenen zueinander stehen sollen.
Dieser Zugang ermöglicht es einer Intelligenz ohne "geometrisches Vorstellungsvermögen", z.B. einem entwickelten Computer, Geometrie zu lernen und zu Ergebnissen zu gelangen.
Bezüglich der Analysis kommen wir hierauf noch einmal an späterer Stelle zurück.

Das heißt keineswegs, daß Anschauung, Vorstellung, Intuition keine Rolle spielen. Sie weisen oft den Weg zur Lösung, legen neue Begriffen nahe usw. Aber gesicherte mathematische Erkenntnis ist nur, was exakt bewiesen wurde. Insofern erfordert die Arbeit einer Mathematikerin oder eines Mathematikers auch viel Fantasie. So soll der schon zitierte Hilbert über einen seiner Schüler gesagt haben: "Er ist Schriftsteller geworden, er hatte zu wenig Fantasie."

Entwicklungsetappen der Mathematik

Erste Anfänge der Mathematik

Das Zählen von Dingen des umgebenen Lebens brachte schon in früher Zeit die natürlichen Zahlen hervor. In diesem Zusammenhang muß das Abzählen durch Zuordnen erwähnt werden.
Selbst, wenn wir heute einen Tisch decken, müssen wir, nachdem die Teller aufgelegt sind, nicht unbedingt die Löffel abzählend aus der Schublade nehmen. Wir legen einfach so viele Löffel auf den Tisch neben die Teller, bis jedem Teller ein Löffel zugeordnet ist.
Interessant ist, daß in Jarmo, dem heutigen Irak über 1000 Kugeln gefunden wurden, die vor etwa 9000 Jahren die Funktion hatten, in einem verschlossenen Behältnis einer Warenladung beigefügt zu werden, damit der Empfänger die Vollständigkeit der Lieferung überprüfen konnte. Die ältesten Kerbhölzer datieren von vor 50 000 Jahren, man fand 25 000 Jahre alte geometrische Ornamente.

Mathematik der Frühzeit

Die erste heute bekannte Hochkultur der Sumerer verfügte vor 5000 Jahren über Schriftzeichen und Zahlsymbole. Die alten Babylonier benutzten ein Sexagesimalsystem als Positionssystem vor 4000 Jahren. Ab etwa dieser Zeit gibt es in Ägypten Bruchrechnung, in Mesopotamien werden lineare und quadratische Gleichungen gelöst, der Satz des Pythagoras ist den Babyloniern bekannt. Um 575 v.u.Z. tritt die Null im Positionssystem der Babylonier auf.
Die Bedürfnisse von Feldvermessung, Astronomie und Schiffahrt förderten die Herausbildung der Mathematik auch in anderen alten Kulturen wie Indien und China.

Mathematik der Antike

Im antiken Griechenland wurde die Mathematik zur Wissenschaft.
Thales von Milet, der Vater der griechischen Mathematik, bewies einige geometrische Sätze um etwa 600 v.u.Z.
Pythagoras und seine Schüler entwickelten die Arithmetik und Geometrie um 500 v.u.Z. Ein Pythagoräer entdeckte, daß Diagonale und Seite eines Quadrates nicht im rationalen Verhältnis zueinander stehen, wobei er einen Widerspruchsbeweis führte. Diese Existenz von nichtrationalen Zahlen löste die erste Krise der Mathematik aus und führte zu einer getrennten Entwicklung von Geometrie und Arithmetik. Hier spielte zweifellos auch die subjektive Sicht der Pythagoräer eine Rolle, die die Welt nur in rationalen Verhältnissen sehen wollten.
Eudoxos (408 - 355 v.u.Z.) entwickelte die Proportionenlehre und überwand somit diese erste Krise.
Ein Höhepunkt in der griechischen Mathematik ist das Werk des Euklid (365 - 300 v.u.Z.). Seine "Elemente" sind für 2000 Jahre das Standardwerk der Geometrie. Die axiomatische Methode ist Vorbild für die ganze Mathematik. Von Euklid stammt der Beweis, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. Er führte einen Widerspruchsbeweis und tat gleichzeitig einen vorsichtigen Schritt in die Unendlichkeit. Er sagte nämlich, "es gibt mehr Primzahlen als jede vorgelegte Anzahl von Primzahlen".
Den wesentlichen Abschluß der antiken Mathematik bildet das Werk des Archimedes (287 - 212 v.u.Z.). Er gilt als gößter Mathematiker des Altertums, er kam dem Grenzwertbegriff und der Integralrechnung schon recht nahe und wandte sein mathematisches und physikalisches Wissen unmittelbar an, indem er viele Vorrichtungen und Maschinen konstruierte, die auch der Verteidigung seiner Stadt Syracus gegen die Römer dienten.

An dieser Stelle sollte gesagt werden, daß die politischen Ereignisse in den verschiedenen Epochen der Entwicklung der Wissenschaften und somit auch der Mathematik nicht immer förderlich waren. Als Julius Cäsar 47 v.u.Z. das ägyptische Alexandria belagerte, brannte die größte Bibliothek mit über 700 000 Papyrusrollen nieder. Später verfolgte die christliche Kirche die "heidnischen" Wissenschaften. Auch in anderen Religionen gab es entsprechende Übergriffe. Unübertroffen dürfte aber die Inquisition gewesen sein, die mit Feuer und Schwert gegen alle vorging, die es wagten, wissenschaftliche Erkenntnisse gegen Dogmen zu stellen. So mußte Galileo Galilei dem heliozentrischen Weltbild abschwören. Giordano Bruno wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Bis in unsere Tage gab und gibt es Verfolgungen von Wissenschaftlern. Es sei nur an die Zeit des Faschismus und an die der stalinistischen Verfolgungen in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion erinnert, um zwei besonders schlimme Perioden hervorzuheben. Dieses leider sehr umfangreiche tragische Kapitel kann hier nicht weiter behandelt werden. Es wären hierzu eigene Vorträge nötig, um diesem Thema auch nur annähernd gerecht zu werden.

Zurück zur weiteren Geschichte der Mathematik.

Der bereits im späten Römischen Reich einsetzenden Stagnation der Mathematik folgte nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches etwa um 500 eine Jahrhunderte lange Periode in Europa, in der antikes Wissen weitgehend verschüttet war, vieles wurde später mühevoll wiederentdeckt oder von anderen Kulturen, namentlich den Arabern übernommen.
In dieser Zeit wirkten im arabischen Raum viele Gelehrte, die an antike Kenntnisse anknüpften, so kamen z.B. die sogenannten arabischen Ziffern, eigentlich indische Ziffern, nach Europa.
Mit dem Italiener Fibonacci (1180 - 1250) beginnt die Wiederbelebung der abendländlichen Mathematik. Er rechnete mit arabischen Ziffern, leistete Beiträge zu Algebra und Zahlentheorie und verbreitete die islamische und indische Mathematik in Europa.
Nun treten wieder mehr Mathematiker und Gelehrte des späten Mittelalters und der Renaissance auf, wie Regiomontanus, Leonardo da Vinci, Copernicus, Adam Ries, Vieta.
Der erste wesentliche Schritt über das mathematische Wissen der Antike hinaus wurde 1545 von Cardano mit seiner Methode zur Lösung von algebraischen Gleichungen 3. und 4. Grades getan.
Bombielli verwendet systematisch komplexe Zahlen um 1550.
In der Folge drängt die Entwicklung der Mathematik, insbesondere der Analysis, in einem längeren Prozeß zur Meisterung von Grenzwerten und unendlich kleinen Größen. Es wird dabei an Archimedes angeknüpft, um krummlinig begrenzte Flächen zu berechnen. So gibt z.B. Kepler ein Buch mit dem Titel "Neue Raummeßkunst für Weinfässer" heraus.
Die Entwicklung von Seeschiffahrt, Astronomie, Mechanik usw trugen dazu bei.
Namen dieser Zeit sind: Galilei, Kepler, Descartes, Fermat, Pascal.

Als Schöpfer der neuzeitlichen Mathematik gilt Isaac Newton (1643 - 1723). Mit Leibniz (1646 - 1716) entbrennt bald ein Streik darüber, wer zuerst die Differential- und Integralrechnung entwickelte. Von Newton stammt der Ableitungspunkt, der heute vielfach noch in physikalischen Anwendungen verwendet wird, von Leibniz stammt die Schreibweise der Differentiale. Beide verfügten jedoch nicht über einen exakten Grenzwertbegriff und operierten mit unendlich kleinen Größen, was von einigen Zeitgenossen hart und spöttisch kritisiert wurde.
Die Analysis dieser Zeit ist eng mit mechanischen Fragestellungen, z.B. nach der Augenblicksgeschwindigkeit, verbunden. In heutigen Darlegungen der Analysis ist dieser Bewegungsstandpunkt zumindest aus der exakten Formulierung verschwunden und dient nur noch der Motivation. So definieren wir heute den Grenzwert als etwas Statisches: "In jeder Umgebung des Grenzwertes liegen fast alle Folgenglieder."
In der Folge geht es "Schlag auf Schlag": Die Möglichkeiten des neuen "Calculus" werden ausprobiert und weiterentwickelt, es enstehen die klassische Variationsrechnung, die Theorie der gewöhnlichen und partiellen Differentialgleichungen und die Differentialgeometrie. Im 18. Jahrhundert wurde die Analysis zur beherrschenden Wissenschaft der Zeit, sie verband sich eng mit Mechanik und Astronomie und hatte viele unmittelbare Anwendungen. Die Welt schien berechenbar. Die Erfolge gaben den neuen von Newton und Leibniz geschaffenen Methoden recht, die berechtigte Kritik an der mangelnden Strenge ihrer Begründung konnte diese Entwicklung nicht aufhalten. Ja, es gab sogar Versuche, Ergebnisse der Analysis und Mechanik in die Philosophie zu übernehmen, etwa in Gestalt des Laplaceschen Dämons.
1696 stellt Johann Bernoulli (1667 - 1748) die berühmte Aufgabe der Brachystochrone, die den Beginn der Variationsrechnung markierte.
Leonhard Euler (1707 - 1783) gilt als produktivster Mathematiker aller Zeiten, seine Werke umfassen 72 Bände.
Weitere berühmte Namen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts sind Lagrange (1736 - 1813), Laplace (1749 - 1827) und Gauß (1777 - 1855), als einer der größten Mathematiker überhaupt, der auf vielen Gebieten arbeitete.
An dieser Stelle fällt es mir schwer, weitere Mathematiker herauszuheben. Im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert erlebt die Mathematik wie auch andere Wissenschaften einen stürmischen Aufschwung, woran bereits eine Vielzahl von Gelehrten einen Anteil hatten und haben.
Was die Analysis angeht, seien genannt: Cauchy (1789 - 1857), Dirichlet (1805 - 1859), Weierstraß (1815 - 1897), Riemann (1826 - 1866).
Nach wesentlichen Beiträgen von Cauchy zur Begründung der Analysis, insbesondere des Grenzwertes, gelangte insbesondere mit Weierstraß und seiner sprichwörtlichen mathematischen Strenge die Enwicklung der Analysis zu einen relativen Abschluß: Grenzwert, Stetigkeit, Differenzierbarkeit und natürlich das von Riemann geschaffene Integral waren klar definiert. Ebenso wurde die Theorie der reellen Zahlen durch Weierstraß, Dedekind, Hilbert u.a. vervollkommnet.
Die Wirkungsstätte von Karl Weierstraß war die Berliner Universität, also unsere heutige Humboldt-Universität. Seine analytische Denkweise fand nicht nur Befall, so war ein anderer Berliner Ordinarius, Kronecker, ein heftiger Opponent.

Das 19. Jahrhundert bringt zwei neue Disziplinen der Mathematik hervor, die Mathematische Logik und die Mengenlehre, die die Grundlagen der Mathematik bilden.
Offenbar war es notwendig, daß sich im Laufe der Jahrtausende die Mathematik so weit entwickeln mußte, damit es möglich wurde, ihre eigentlichen strengen Grundlagen zu untersuchen und auch erst zu schaffen.
Verweilen wir etwas ausführlicher bei Georg Cantor und der Mengenlehre.
Sein reiner Existenzbeweis zum Nachweis der transzendenten Zahlen über die Abzählbarkeitsargumente stellt seit den Zeiten der alten Griechen etwas beweis-theoretisch Neues dar.
Es ist jetzt möglich, die Existenz von Dingen zu behaupten und zu beweisen, von denen kein einziger Vertreter bekannt ist. Verdeutlichen wir uns diese Gedankengänge noch einmal.
Cantor bewies, daß die Menge der algebraischen Zahlen abzählbar und die der reellen Zahlen überabzählbar ist. Also muß es nicht-algebraische, d.h., transzendente Zahlen geben.
Dieses Beweisschema läßt sich auch auf den Maß- und den Kategorie-Begriff übertragen.
Die rationalen Zahlen bilden eine sogenannte Nullmenge, die rellen Zahlen selbst sind keine Nullmenge, also gibt es irrationale Zahlen.
Oder: Gibt es stetige, aber nirgends differenzierbare Funktionen?
Weierstraß konstruierte eine solche Funktion und bewies so, daß es derartige Funktionen gibt. Bis dahin war das keineswegs Allgemeingut. So ging z.B. noch Cauchy davon aus, daß stetige Funktionen bis auf gewisse Ausnahmepunkte differenzierbar sind.
Banach konnte zeigen, daß die Funktionen, die in einem einzigen Punkt eine Ableitung besitzen, eine Menge 1. Kategorie im Funktionenraum der stetigen Funktionen bilden. Somit ist es das "Normale", daß stetige Funktionen nirgends differenzierbar sind.
Die Ergebnisse von Cantor waren nicht unumstritten, zu schwerwiegend schienen manche Konsequenzen aus der Mengenlehre, insbesondere der Theorie des Unendlichen.
So ist es z.B. nicht möglich, allen reellen Zahlen einen aus endlich vielen Buchstaben bestehenden Namen zu geben.
Wie kam Georg Cantor zur Mengenlehre? Nicht etwa, weil er von Anfang an eine möglichst abstrakte Theorie schaffen wollte, sondern er wurde durch recht praktische Belange zu seinen späteren Forschungen geführt. Er untersuchte das Konvergenzverhalten von Fourier-Reihen, das bekanntlich schwieriger zu studieren ist als das der Potenzreihen.
Selbst bei einer stetigen Funktion muß die Fourier-Reihe keineswegs in allen Punkten gegen den Funktionswert konvergieren. Die Versuche, die Ausnahmemengen zu beschreiben, brachten Cantor auf seinen berühmten Weg. Seine Genialität besteht darin, daß er sich mit den unmittelbaren Anwendungen seiner ersten Ergebnisse nicht zufrieden gab, sondern verallgemeinernd neue Probleme stellte.
Von ihm stammt die berühmte Kontinuum-Hypothese. Im Jahre 1963 bewies Paul Cohen (geb. 1934) die Unabhängigkeit dieser Kontinuum-Hypothese von den übrigen Axiomen der Mengenlehre. Überraschenderweise ist damit die Strukturierung des Unendlichen nicht eindeutig festgelegt, und es gibt mehrere logisch widerspruchsfreie derartige Strukturen.
Für die Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert, selbst der Analysis allein, fällt es schwer, in obiger Weise fortzufahren. Zu stürmisch und vielschichtig sind die Entwicklungen, zu zahlreich die Namen. Es enstanden viele neue Disziplinen, wie etwa die Funktionalanalysis mit ihren vielfältigen Teilgebieten und Anwendungen.
Auf dem zweiten Weltkongreß der Mathematiker 1900 in Paris formulierte Hilbert seine berühmten 23 Probleme der Mathematik, deren Bearbeitung und Lösung zum Programm wurden. Das allein wäre schon Vorträge wert!
Vom Standpunkt der Analysis möchte ich - mehr zur Orientierung als halbwegs zur Vollständigkeit - folgende Disziplinen und Namen hervorheben:

Maß- und Integrationstheorie:
Borel, Lebesgue, Carathéodory, Jegorow, Lusin, ...
Funktionalanalysis:
Fredholm, Hilbert, Frechet, Riesz, Banach, Brouwer, Browder, Schauder, ...
Funktionenräume:
Riesz, Banach, Sobolew, Schwartz [Verallgemeinerte Ableitungen, Distributionen], ...

Beschließen wir unsere Reise durch die Historie der Mathematik damit, daß wir noch einmal auf die axiomatische Methode zurückkommen.
Die heute übliche axiomatische Einführung der reellen Zahlen geht auf Hilbert zurück.
Zeigen wir, welche große Ernte wir einfahren können, nachdem wir vergleichsweise wenig axiomatisch postulieren.
Wir denken eine Menge von Dingen, die wir reelle Zahlen nennen.
Je zwei rellen Zahlen soll eindeutig eine dritte - die Summe der ersten beiden - zugeordnet werden. Ebenso soll je zwei rellen Zahlen eindeutig eine dritte - das Produkt der ersten beiden - zugeordnet werden.
Diese beiden Operationen - wir nennen sie Addition bzw. Multiplikation - sollen dann neun Axiomen genügen. Die reellen Zahlen haben damit die Struktur eines Körpers und enthalten mindestens zwei verschiedene Elemente, die Null und die Eins.
Das reicht nach unserer Erfahrung zur Beschreibung der reellen Zahlen nicht aus. Also postulieren wir drei weitere Axiome, die der Anordnung. Über den Begriff der induktiven Menge definieren wir die natürlichen Zahlen, gelangen zum Induktionsprinzip, zu ganzen und rationalen Zahlen. Wenn wir es wünschen, können wir Zahlentheorie oder Kombinatorik treiben. Im Vergleich mit der Menge der natürlichen Zahlen definieren wir die abzählbare Unendlichkeit.
Das Axiom über die Existenz eines Supremums für jede nichtleere nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen beschert uns die Vollständigkeit der reellen Zahlen, es gibt keine "Lücken" auf der Zahlengeraden. Es folgen Intervallschachtelungsprinzip und daraus zwingend nach Cantor die überabzählbare Unendlichkeit der reellen Zahlen.
Jetzt können wir uns mit Folgen und Funktionen beschäftigen und das ganze Gebäude der Analysis auf gesicherten Fundamenten aufbauen.

[Von Michael Wolff: Alternative Vorlesung im Rahmen des Universitätsstreiks am 2.12.97]
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